Kultur und Wein

das beschauliche Magazin


Mailand und die Alpen

Die geheimnisvollen Seiten einer modernen Weltstadt

Die goldene Madinnina über dem Dom von Mailand

Sicher nicht das letzte Abendmahl in Mailand!

Mailand ist (ein)gerüstet für die EXPO 2015. Aber keine Angst, hinter den Plastikplanen unzähliger Baustellen findet sich eine Stadt, die wie kaum eine andere Metropole die geschäftige Gegenwart in derart sehenswerter Harmonie mit seiner großen Vergangenheit verbindet.

Skyline vom Mailand des 21. Jh.

Ausgangspunkt für eine Reise zu den Fixpunkten einer Stadtbesichtigung ist die Galleria Vittorio Emanuele. Man sollte sich für den Besuch dieses Tempels aus Stein, Stahl und Glas, von einem selbstbewussten Mailänder Bürgertum dem Gott Konsum geweiht, mit entsprechendem Kleingeld ausrüsten.

Mode in der Galleria Vittorio Emanuele

Mode von Prada, Gucci oder Louis Vuitton hat ihren Preis. Gratis sind nur das Glück bzw. die Fruchtbarkeit, um die sich junge Damen mit dem Schuhabsatz im Gemächt eines Stieres drehen. Zu finden ist das „gequälte“ Tier im Turiner Wappen auf dem Boden unter der mächtigen Kuppel dieses Oktogons.

 

Von diesem kleinen, viel fotografierten Aberglauben macht man sich auf, um mit wenigen Schritten oder einer nostalgischen Fahrt mit der Tram 1 eine ganze Reihe anderer geheimnisvoller Stätten zu entdecken. Das nächste Ziel liegt allerdings gleich gegenüber der Galleria. Il Duomo di Santa Maria Nascente, kurz der Dom von Mailand, nimmt dabei bereits einen guten halben Tag oder mehr ein. Dieses imposante Gebirge aus spitzen Türmchen schließt im Osten die von Tauben und Touristen gleichermaßen bevölkerte Piazza del Duomo ab. Ehrfürchtig betritt man etliche Jahrhunderte Baugeschichte (1386-1892), von der Gotik über die Spätgotik bis zur Neugotik.

Der Säulenwald im Inneren und die unzähligen, an den unmöglichsten Stellen angebrachten Figuren bewahren jedoch das Geheimnis ihrer Entstehungszeit. Die meisten dieser mysteriösen Dämonen und himmlischen Boten, der höllischen Fratzen der Wasserspeier über gequälten menschlichen Gestalten behalten auch Namen und Bedeutung für sich. Mag sein, dass Experten ihre Botschaften zu entschlüsseln vermögen, dem uneingeweihten Betrachter bleibt jedoch ihr Mysterium verborgen.

Der Madonnina, dem Madönnchen, mit immerhin 4,16 Meter Größe, kommt man auch bei einer Besteigung des gut 60 Meter hohen Daches nicht wesentlich näher. Auch von dort oben nimmt sich die goldene Maria Assunta auf der höchsten Spitze eines Turmes noch recht zierlich aus. Aber allein der Blick, den man vom Dach aus über die Stadt hinaus bis zu den Alpen genießt, lohnt den Aufstieg.

Wasserspeier und geheimnisvolle Figuren an der Außenseite des Domes

Nicht nur hinauf, auch hinunter sollte man sich im Dom verfügen. Der eine Abstieg führt in die Krypta unter dem Hochaltar zu Kristallurne mit den sterblichen Resten des heiligen Karl Borromäus. Der andere Weg in die Tiefe, gleich neben dem Haupteingang, öffnet den Zugang zur Vorgeschichte des heutigen Domes.

Reste eines Baptisteriums unter dem Mailänder Dom

Archäologen haben unter der Piazza del Duomo die Reste einer Basilika, geweiht der hl. Tecla, Mauerteile einer Kirche mit drei Apsiden und ein reichlich mit Mosaiken geschmücktes Baptisterium ergraben.

 

Auf die weit älteren Wurzeln der Stadt verweist ein unscheinbares Relief in einem Säulenkapitell des Palazzo della Ragione nahe dem Domplatz. Zu sehen ist ein weißes Wildschwein mit nur halber Wolle (semi-lanuto)

Es handelt sich um ein Symbol in Tiergestalt, das tiefe Spuren in der europäischen und asiatischen Mythologie hinterlassen hat, meint Antonio Emanuele Piedimonte in seinem Buch „Milano esoterica“ (Edizioni Intra Moenia 2013). Er lässt eine breit angelegte Ausführung über die eminente Bedeutung weißer Wildschweine bei den Kelten folgen.

Und, so Piedimonte an anderer Stelle, dürfte nicht zu Unrecht angenommen werden, dass die Gründer von „Mid-Lann“ (lat. terra di mezzo), dem späteren römischen Mediolanum, der keltische Stamm der Insubrier waren.

 

Wesentlich jünger ist das Wappentier von Mailand, eine Schlange, die einen lockigen Jüngling verschlingt. Möglicherweise steht dieses Reptil mit der „ehernen Schlange“ in der Basilika di Sant´Ambrogio in Verbindung.

Das Wildschwein mit der halben Wolle am Palazzo della Ragione

Es soll sich dort um jenes Exemplar handeln, das Moses in der Wüste aufgerichtet hat. Nach Mailand sei diese Skulptur während der Kreuzzüge nach einem Sieg der lombardischen Ritter über die Sarazenen gelangt. Demnach wäre der Jüngling ein Moslem, der von der biblischen Schlange aufgefressen wird.

Castello Sforzesco

Man kann sie nicht übersehen. An allen wichtigen Punkte der Stadt hat man das Wappen appliziert, naturgemäß besonders häufig am Castello Sforzesco. Erbaut wurde diese mächtige Festung weniger gegen Feinde von außen, denn als Schutz vor den eigenen Untertanen. Der Bau hatte Vorbildwirkung. Italienische Architekten nahmen das Castello als Vorbild des Kreml in Moskau.

 

Ein Hort christlicher Kunst ist die Basilika di Sant´Ambrogio. Ins Auge fallen der prächtige Hochaltar (der goldene Vorsatz ist ein Werk von Volvinio, einem Goldschmied im 9. Jh.) und dahinter das glänzende Mosaik in der Apsis, beherrscht von Christus auf dem Thron. Es handelt sich um eines der wenigen Mosaike, wie sie in dieser Art einst viele Mailänder Kirchen geschmückt haben. Aber wenn man davor steht, ist man vielleicht schon an einem mystischen Kleinod achtlos vorbei gegangen, besser gesagt, man hat den Blick nicht rechtzeitig erhoben. Gemeint sind die Säulen im Atrium, also dem Platz vor dem Gotteshaus.

Die Reliefs erzählen Geschichten, eingemeißelt in den Kapitellen. Viele dieser Darstellungen, groteske Tiere, Fratzen und strenge Muster, mögen uns Heutigen nicht verständlich sein. Es zahlt sich jedoch aus, langsam von einer Säule zur nächsten zu schlendern und jedes einzelne Kapitell in Ruhe mit den Augen zu umrunden. Langsam wird man beginnen, die fernen Botschaften dieser steinernen Zeugen zu erahnen.

Man könnte über diese Kirche wie übrigens über alle Mailänder Gotteshäuser noch sehr viel mehr erzählen, aber dafür gibt es an Ort und Stelle feine Führer zu kaufen. Die Hinweise in diesem Artikel können nicht mehr als kurze Notizen sein. Auf keinen Fall vergessen sollte man auf die Madonna mit Kind, die laut Legende vom Teufel persönlich mit Hörnern versehen wurden. Hoch oben in einem Zwickel der Portinari Kapelle entdeckt man die beiden Gehörnten, die, schließt man aus ihrem Gesichtsausdruck, gar nicht glücklich mit diesem höllischen Kopfschmuck sein dürften.

Säulenkapitell im Atrium der Basilika di Sant´Ambrogio

Bei diesem von Vincenco Foppa in Fresko festgehaltenen „Wunder der falschen Jungfrau“ handelt es sich, so ist zu erfahren, um eine Episode im Leben des heilig gesprochenen Dominikaners Petrus Martyr. Auf dem Weg dorthin ist der Neugierige angehalten, einen frühchristlichen Friedhof unter der Basilika Sant´ Eustorgio, die Kirche selbst und das Museum zu besuchen, wo unter anderen Schätzen die Reliquie mit einem Finger von Thomas von Aquin ehrfürchtig zu bestaunen ist.

Heutzutage ist es nur schwer vorstellbar, dass sich bis etwa ins Jahr 1100 wenige Meter hinter dem Mailänder Dom ein Wald befand, in dem der Erzbischof seiner Jagdlust frönte. Es erheben sich dort die Kirchen S. Nazaro in Brolo (Obstgarten) und S. Stefano und neben dieser das Santuario Archivescovile di S. Bernardino alle Ossa. Es handelt sich dabei um ein beeindruckendes Ossuarium, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Knochen bedeckt sind.

Madonna mit Kind mit Teufelshörnern in der Portinari Kapelle

Sie stammen vom Friedhof eines Hospitals, das 1145 bei S. Stefano errichtet worden war.

 

Leonardo da Vinci hat genau den Moment festgehalten, in dem Jesus den Aposteln mitteilt: „Einer von euch wird mich verraten“. Die Emotionen gehen hoch, so sehr, dass sich eine Hand, bewaffnet mit einem Messer, sogar selbständig gemacht hat. Sie gehört weder zu Johannes, Jesu Lieblingsjünger, noch zu Petrus.

Santuario Archivescovile di S. Bernardino alle Ossa

Aber dennoch, es handelt sich bei diesem Wandgemälde im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie um eines der bedeutendsten Kunstwerke der Welt. Und die Welt weiß diesen Umstand zu schätzen. Massen von Besuchern strömen täglich zum Cenacolo Vinciano, dem Letzten Abendmahl, um wenigstens ein paar Minuten in stiller Betrachtung davor verbringen zu dürfen. Rechtzeitige Anmeldung und pünktliches Erscheinen zum zugewiesenen Termin sind notwendig.

 

Das Geheimnis dieses Werkes liegt, so ist sich die Kunstwissenschaft einig, nicht in der Identität der Person an der rechten Seite von Jesus. Es ist, trotz weiblicher Züge, der Apostel Johannes, und nicht, wie Dan Brown in Sakrileg mutmaßte, Maria Magdalena und damit die Mutter eventueller leiblicher Kindern des Gottessohnes. Die Züge des jungen Mannes sind keineswegs mehr diejenigen, die ihnen Leonardo verpasst hat.

Noch zu Lebzeiten des Meisters erlitt das Gemälde schwere Schäden durch Feuchtigkeit der Mauer, bis zum Abblättern der Farbe. Mehrfach wurde es restauriert und Napoleons Truppen verwendeten den Raum als Pferdestall. Selbst die Hausherren hatten wenig Respekt davor. Die Füße des Herrn fielen einer Tür zum Opfer, da der Zugang von der Küche in den klösterlichen Speisesaal bequemer gemacht werden sollte. Den Zweiten Weltkrieg überlebte das Bild trotz eines Bombentreffers auf wundersame Weise.

Die wahre Faszination des Cenacolo geht von seiner Komposition aus. Geniale Perspektive bewirkt eine Verlängerung des Raumes. Man wird Gast dieser Tischgesellschaft und geht auf sie zu, mit dem Gefühl, unmittelbar am Mysterium dieses Abends teilzuhaben.

Cenacolo ist die liebenswürdige Verkleinerung des Ausdrucks „cena“ für das Abendessen, und davon halten Italiener bekanntermaßen sehr viel. Auch der Besucher findet in dieser Stadt ohne große Sucherei bestimmt ein Lokal, das ein anständiges Preis-Leistungs-Verhältnis bietet.

Die Navigli, ein Tipp für das Cena

Ein Tipp gefällig? Die Navigli, der Rest eines Kanalsystems, das bis ins 20. Jahrhundert Stadt und Umgebung durchzogen hat. Am Abend geht dort, unweit der Porta Genova, die Post ab. Die Lokale, die sich links und rechts der malerischen Wasserstraße aneinanderreihen, sind von zumeist jungem Publikum belebt. Man flaniert den Kai entlang und entdeckt, wenn der Hunger noch nicht allzu sehr im Bauche nagt, zwischen Pizzeria und Ristorante kleine Galerien und mit etwas Glück sogar einen Künstler bei der Arbeit.

Der Maler Loredano Rizzotti an der Staffelei

„Permesso?“ Loredano Rizzotti nickt freundlich: „Si, certo!“ Er steht an der Staffelei, werkt an einem neuen Bild und scheint vom Besuch keineswegs gestört. Seine Bilder sind gegenständlich und in einer derartig realistischen Perfektion gemalt, dass man sie im ersten Moment für Fotos hält. Trotzdem fühlt sich Rizzotti nicht dem Hyperrealismus zugehörig. Es ist einfach sein Stil. Er zeigt die Stimmung, die ihm alte Bücher oder historische Musikinstrumente vermitteln.

Und er wundert sich, dass er demnächst zu einer großen Ausstellung in den USA eingeladen ist. Vom Veranstalter werden sogar die Kosten für den Transport seiner Bilder übernommen, fügt er fast ungläubig hinzu. Schön, einem Künstler just im Moment seiner Entdeckung begegnet zu sein.

 

Wenn schließlich ein Tisch per mangiare ergattert ist, gewinnt man das Herz des Kellners am ehesten, wenn man fürs Erste „Un mezzo litro di vino di casa“ und eine „mappa in italiano“ bestellt.

Mit einer solchen Speisekarte in der Hand ist auch die Frage „Que cosa è...?“ keine Schande. Unabdingbar ist ein für unsere des ausgiebigen Essens entwöhnten Mägen der Marathon durch Antipasti, Primi piatti, gefolgt von Secondi piatti bis Dolci, denn nur auf diese Weise eröffnen sich die wahren kulinarischen Geheimnisse dieser Stadt, in der man „con la garanzia“ nicht das letzte Abendmahl genossen hat.

Das neue Mailand hinter den gotsichen Spitzen am Dach des Domes

Statistik